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Franziska

warf noch einen Blick in den Spiegel, der neben ihrer Eingangstüre hing. Die nette alte Dame, mit dem grauen Pagenkopf und der goldgerahmten Brille, die ihr entgegenschaute, streckte ganz plötzlich die Zunge heraus.
Sie ging zurück ins Schlafzimmer, warf das weiße T-Shirt, das sie getragen hatte, aufs Bett, suchte hastig im Schrank herum und zog eine Tunika in etwas wild gemusterten violetten Tönen hervor.
So ganz auf bieder wollte sie diesen ersten Auftritt hier auch wieder nicht gestalten.
Diesmal zeigte sie ihrem Spiegelbild einen Vogel, bevor sie sich die Handtasche umhängte und das Appartement verließ.
An der Tür des Speisesaals blieb sie unschlüssig stehen. Auf der linken Seite war ein großes Buffet aufgebaut. Dahinter standen Köche und Köchinnen mit weißen Mützen und häuften den ordentlich in einer Reihe angestellten Personen Speisen auf ihre Teller.
Die Tische waren jeweils für vier Personen gedeckt, mit sonnengelben Mitteldecken und frischen Blümchen in der Mitte. Adrette Serviermädchen liefen mit Getränken herum.
Franziska spürte, wie Panik in ihr hochdrängte. Ein wogendes graues Haarmeer schien über ihr zusammenzuschwappen. An vielen Tischen sah sie Rollstühle oder Gehbehelfe. So mancher hatte seine Serviette umgebunden.
Ja, sie war im Altersheim gelandet!
Sie hielt eines der Mädchen zurück.
»Mein Name ist Beier. Ich bin zum ersten Mal hier.«
»Ah, Frau Beier, guten Tag, ich bin Rosmarie. Wo möchten Sie gerne sitzen? Eher beim Fenster, oder lieber näher an der Türe?«
Franziska blickte sich unsicher um.
»Ja bitte, lieber beim Fenster.«
Rosmarie sah sie leicht abschätzend an und begleitete Franziska zu einem der Tische, an dem bereits zwei Damen saßen.
»Wäre es hier angenehm für Sie?«
»Oh ja, danke schön.« Von diesem Platz aus hatte sie Sicht auf den ganzen Speisesaal. Im Augenblick war sie allerdings nicht sicher, ob das wirklich wünschenswert war.
Die beiden Damen sahen zu ihr hoch und warfen einander anschließend einen Blick zu, den Franziska nicht deuten konnte und im Moment auch gar nicht wollte. Sie fühlte sich einfach unbehaglich und hatte mit sich selber genug zu tun.
»Das ist Frau Beier«, begann Rosmarie mit der Vorstellung.
»Und hier haben wir Frau Regenwälder und Frau Garotti.«
Sie reichten einander alle artig die Hände und lächelten etwas gezwungen.
»Sie bekommen eine Wochenliste von uns, da können Sie ein Menü für den Tag wählen. Wir servieren dieses hier oder, wenn gewünscht, auf Ihrem Zimmer. Wenn Sie kein Menü gewählt haben, können Sie am Buffet Ihr Essen selbst zusammenstellen, Vorspeisen, Salate und Desserts ebenso. Getränke werden serviert und sind im Preis nicht inbegriffen, außer Wasser selbstverständlich. Ihre Getränke können Sie jeweils sofort bezahlen oder wir buchen sie auf Ihr Appartement und Sie bekommen, je nach Wunsch wöchentlich oder monatlich, eine Rechnung dafür«, erklärte Rosmarie, während sie das Gedeck zurechtrückte.
»Bringen Sie mir bitte ein kleines Bier«, orderte Franziska.
»Bar oder auf Zimmer …?«
»444 – und wöchentlich, bitte.«
»Sie wohnen ebenfalls im vierten Stock?«, hakte eine der Tischgefährtinnen ein, Franziska glaubte sich zu erinnern, es war Frau Garotti. »Ich wohne auf 436.«
»Da sind wir ja fast Nachbarinnen.«
»Wenn Sie sich wo nicht auskennen, klopfen Sie einfach bei mir an!«
Franziska versuchte ein dankbares Lächeln. Sie fand die Frau zwar nicht auf Anhieb sympathisch, aber sie schien wenigstens nicht so steinalt zu sein wie die meisten hier.
Ihr Haar, das einen flotten Kurzschnitt aufwies, war kräftig gelbblond, sie schien noch eine recht gute Figur zu haben, soweit man das im Sitzen abschätzen konnte und trug gleichfalls eine in sich gemusterte Tunika, wie das gerade Mode war. Nur hatte diese einen großzügigen Ausschnitt und ihr Dekollete war so hochgepusht, dass es einen Blickfang darstellte. Sie war sorgfältig, wenn auch nicht gerade dezent geschminkt, ihre Fingernägel leuchteten knallrot lackiert.
Doch eigentlich wurde sie Franziska dadurch ein bisschen sympathischer.
»Anscheinend der Paradiesvogel in diesem Nest von alten Krähen«, dachte sie. »Ups!« Sie schlug sich in Gedanken auf den Mund.
Die andere Frau schaute mit leicht geöffnetem Mund auf Franziska und stocherte dabei in ihrem Gemüse herum. Als sie wieder zu essen begann, hörte man ganz deutlich ihre Zahnprothese knacken. Sie hatte die Einheitsfrisur der meisten Damen hier, ordentlich gekämmte graue Löckchen, und ihre Kleidung sah ein bisschen nach Uniform aus: weiße Bluse mit kleinen Blümchen und mittelblaue, ärmellose Weste.
Franziska, die selber gern Blusen mit Westen trug, verlor die Freude am Inhalt ihres Kleiderschrankes. Dabei war sie sich bisher immer recht schick vorgekommen. Ob sich die anderen allerdings nicht ebenso fühlten?
Frau Garotti stupste ihre Sitznachbarin am Oberarm.
»Berta, hast du dein Hörgerät nicht eingeschaltet?«
»Ich hab die Batterien oben vergessen«, schrie Frau Regenwälder.
Frau Garotti verdrehte die Augen in Richtung Franziska.
»Berta hört sehr schlecht, lebt jedoch im ewigen Kampf mit ihrem Hörgerät.«
»Ich würde dich durchaus hören, wenn du nicht immer so nuscheln würdest«, schrie diese wieder. Ihre laute Stimme konnte das Klappern des Gebisses nicht gänzlich übertönen.
»Und Sie …«, sie bohrte mit dem Finger in die Luft. »Wie heißen Sie?«
»Beier. Franziska Beier«, antwortete Franziska, nun auch etwas lauter.
»Sie brauchen nicht so zu schreien, ich höre Sie schon, Frau Meier. Mit mir muss man nur normal sprechen, nicht vor sich hin murmeln.« Sie wackelte vorwurfsvoll mit dem Kopf.
»B-eier«, wiederholte Franziska leiser, aber gedehnt und vermeintlich deutlicher.
»Ja, ja!« Frau Regenwälder warf einen Blick zu Frau Garotti und verzog den Mund. »Hab ja verstanden.«
Franziska fand es an der Zeit, zum Buffet zu gehen.
Im Unterschied zu den Speisesaalgästen überraschte sie dieses zum Positiven. Sah alles wunderbar aus, sehr appetitlich und es fiel ihr beinahe schwer, sich zu entscheiden. Vor allem das knackige Gemüse; genauso hatte sie es gern. Sie war keine große Fleischesserin und hatte befürchtet, dass Gemüse hier eher matschig und in Sauce sein würde. Aber so … Das Personal war äußerst zuvorkommend und Franziska fühlte sich so ähnlich wie in einem guten Hotel. Das hob ihre Stimmung ein bisschen und deshalb wagte sie beim Zurückgehen zu ihrem Tisch einen etwas genaueren Blick auf die Anwesenden.
Erneut drohte ihr die graue gesichtslose Masse die Luft zu nehmen. Es gab um ein Vielfaches mehr Frauen als Männer, indes das war nicht das Kriterium. Alle sahen irgendwie gleich aus und Franziska war fast froh, als sie an ihrem Tisch auf Frau Garotti traf.
»Das Essen ist super! Wie in einem guten Hotel. Weil man ja nicht an ein Menü gebunden ist, sondern überall auswählen kann«, krähte Frau Regenwälder und nickte mit Kennermiene. »Ich war total erstaunt, ich hatte nicht damit gerechnet.«
»Ach, sind Sie auch neu hier?«
»Ja, mir gefällt es hier.«
»Sind Sie schon lange hier?«, versuchte es Franziska noch einmal.
»Sie ist seit drei Jahren hier«, mischte sich Frau Garotti ein.
»Du bist noch keine drei Jahre hier, höchstens ein halbes Jahr!«
»Du bist drei Jahre hier«, korrigierte die Garotti.
»Ich bin seit drei Jahren hier, doch sie ist höchstens ein halbes Jahr da«, wandte sich Frau Regenwälder neuerlich an Franziska.
»Aber das Essen ist super. Wie in einem guten Hotel. Ich hatte nicht damit gerechnet. Weil man immer aussuchen kann, was man will. Ich habe geglaubt, man bekommt einfach ein Menü serviert. Aber so ist das super! Ich bin sehr heikel, was das Essen anbelangt und darum hatte ich da größte Bedenken. Wenn ich das gewusst hätte, wäre ich bereits früher hergekommen.«
Franziska nahm einen Schluck von dem Bier, das Rosmarie in der Zwischenzeit gebracht hatte und wandte sich anschließend ihrem Teller zu.
»Trinken Sie?«, röhrte Frau Regenwälder.
»I-ich? N-ein! J-ja, ganz gern zum Essen ein Bier oder hin und wieder mal ein Glas Wein.«
»Na gut!«, wurde ihr das gnädigst zugestanden, wiewohl Frau Regenwälder nicht überzeugt schien. Sie beobachtete misstrauisch jeden Schluck, den Franziska zu sich nahm.
»Sie dürfen das nicht allzu ernst nehmen«, meinte Frau Garotti, als die alte Dame zum Buffet ging, um sich ihrem Nachtisch zu widmen. »Sie ist oft ein wenig seltsam. Und eigentlich immer mühsam.« Sie zwinkerte Franziska kumpelhaft zu, was dieser überhaupt nicht behagte.
Egal wie schwerfällig die Frau war, es war nicht Franziskas Art, mit jemandem, den sie nicht kannte, in dieser Form über andere zu reden.
Das Gespräch wurde unterbrochen, weil eine kleine, zierliche Dame mit einem Stock an den Tisch kam, sich setzte und sorgfältig die Serviette entfaltete und auf ihre Knie legte. Frau Garotti sah sich suchend im Saal um.
Und da kam bereits Rosmarie.
»Frau Mollitzer, das ist nicht Ihr Platz! Kommen Sie bitte, ich bringe Sie an Ihren Tisch.«
Die Angesprochene stand sofort auf, faltete die Serviette ordentlich zusammen, legte sie neben das Besteck und lächelte freundlich in die Runde. Ergeben trottete sie hinter Rosmarie her, die sie zu ihrem Platz ein paar Tische weiter brachte.
»Die kommt auch fast jeden Tag. Wo sie einen freien Platz sieht, setzt sie sich einfach dazu.«
Frau Regenwälder jonglierte ihr Dessert an den Tisch.
»War die Mollitzer schon wieder da?«, dröhnte sie, verdrehte die Augen und tippte, an Franziska gewandt, mit dem Finger auf die Stirn.
Franziska hatte fürs erste einmal genug.
Sie verabschiedete sich hastig und schaute, dass sie in ihr Appartement kam.
Als sie die Tür hinter sich schloss, spürte sie, wie ihr die Tränen hochstiegen.
Allerdings schien ihr das denn doch zu dramatisch, hier jetzt abzuheulen. Sie goss mit leicht zitternder Hand fingerhoch Kognak in einen überdimensionierten Glasschwenker und stellte sich damit an die Balkontüre.
»Trinken Sie?«, krakeelte es in ihren Ohren, während sie das Glas in ihren Handhöhlen anwärmte. Sie hob es vor ihre Augen, grinste es an und nickte bedeutungsvoll.
»Wenn nicht, hier beginne ich sicher damit.«
Dann musste sie lachen und stürzte das edle Getränk in einem Zug hinunter.

 

 

Das ist der erste Auftritt von Franziska Beier in dem Seniorenwohnhaus, in das sie mit siebenundsiebzig zieht, um ein eventuelles Pflegeaufkommen zu sichern und sich noch rechtzeitig um ihr soziales Umfeld bemühen zu können.

Daus aufgetretene Missbehagen überwindet sie bald, auch wenn sie plötzlich glaubt, sich in einem vorgehaltenen Spiegel zu erkennen. Doch es wartet eine viel größere Herausforderung für sie. Die Männer machen ihr Avancen und schockieren sie damit – seit mehr als fünfundzwanzig Jahren hat sie sich ihnen entzogen und nun, als sie sich vom Alter beschützt glaubt, treten noch einmal sexuelle Anforderungen in ihr Leben.
Die Vergangenheit krümmt ihre Finger nach ihr.
Die Entscheidung zur Liebe und Erotik fällt Franziska schwer und ihre Umwelt zeigt wenig Verständnis dafür.

 

 

Harald

hatte seine Mutter nach Hause gebracht. Jetzt warf er die Schlüssel wütend auf die Kommode neben der Eingangstüre. Zeit, den Mantel auszuziehen, nahm er sich keine, sondern stürmte, ungeduldig an den Ärmeln zerrend, um die Ecke, wo Lore und Bennie vor dem Fernseher saßen. Dort warf er ihn auf einen der Fauteuils, ergriff die Fernbedienung und drückte die Aus-Taste.
»He!«, räsonierte Bennie und Lore wandte sich Stirn runzelnd um.
»Wie könnt ihr hier so ruhig fernsehen?«, fragte Harald gereizt.
Mutter und Sohn warfen einander einen verdeckt spöttischen Blick zu, dann stand Lore auf und legte ihrem Mann die Hand auf den Arm.
»Komm, setz dich erst mal in Ruhe. Magst du ein Bier oder lieber ein Glas Wein?«
Sie nahm den Mantel und ging damit ein paar Schritte in Richtung Küche. Weit kam sie nicht, denn Harald schrie:
»So bleib doch hier! Wir müssen reden!«
»Was regst du dich denn so auf?«, fragte Lore sanft und kam wieder zurück. »Sie ist alt genug, um selbst zu wissen, was sie tut.«
»Sie ist siebenundsiebzig, und das nicht mehr lang«, erwiderte er aufgebracht.
»Ja, was tut sie denn, um Himmels Willen? Nur weil sie einmal den Heiligen Abend nicht mit uns verbringen will, machst du so ein Tamtam?«
Harald starrte sie an, als käme sie vom Mond.
»Es ist das erste Mal«, stammelte er.
»Na und? Du bist doch kein kleines Kind mehr.« Lore schüttelte den Kopf.
»Aber Weihnachten … Jetzt auch Mama …«
»Harald!« Jetzt wurde sie ein wenig streng. »Nicht so! Das liegt siebenundzwanzig Jahre zurück!«
Harald senkte den Kopf. Lore sah ihn ein wenig unschlüssig an, dann setzte sie sich neben ihn und nahm seine Hand.
»Geht es wirklich darum? Wenn du Mama unbedingt hier haben willst, dann brauchst du ja nur ihn ebenfalls einzuladen. Sie sagte, dass sie bei ihm bleiben will, weil er sonst allein ist.«
Aufgeregt sprang Harald auf.
»Spinnst du? Ein fremder Mann! Das ist ein Familienfest!«
»Wie sich das anhörte, wird er so fremd nicht bleiben«, konterte Lore trocken.
Harald fuhr sich mit einer Hand an den Hals und lief im Zimmer herum wie ein eingesperrter Tiger.
Bennie zog den Kopf ein und betrachtete seinen Vater amüsiert. Hinter dessen Rücken zog er spöttische Grimassen zu seiner Mutter hin. Diese zwinkerte ihm mit den Augen etwas unwillig zu, musste sich aber selbst ein Schmunzeln verkneifen.
Harald warf einen unsicheren Blick zu Bennie, dann trat er zwischen ihn und Lore und flüsterte zu seiner Frau hinab:
»Ist das nicht ungeheuerlich? Sie scheinen … öh-hm …«
Nun konnte Lore ihr Grinsen nicht mehr kontrollieren. Wieder nahm sie Harald bei der Hand und zog ihn auf die Sitzbank herunter.
»Ja, natürlich. Warum auch nicht?«, sagte sie in Zimmerlautstärke.
Harald zuckte zusammen, erneut ging sein Blick zu seinem Sohn.
»Das ist für dich normal?«, zischte er leise, aber höchst aufgebracht.
»Du brauchst nicht zu flüstern, ich weiß auch schon, wovon du sprichst«, mischte sich Bennie ironisch ein, bevor seine Mutter antworten konnte.
»Hast du denn ein Problem damit?« Lore versuchte, ruhig zu bleiben.
»Nein … ich … öh … nun …«, stotterte Harald los. »In diesem Alter!«
»Wirst du mich dann nicht mehr lieben?«, flötete seine Gattin mit neckischem Augenaufschlag.
Abwehrend wedelte er mit der Hand und warf neuerlich einen peinlich berührten Blick zu Bennie, den sein Sohn mit Hochziehen der Augenbrauen beantwortete.
»Aber … Mutter …«, stieß Harald dann mit schmerzlichem Unterton hervor.
Lore biss sich auf die Lippen und lehnte sich zurück.
»Wenn es dich beruhigt«, mischte sich jedoch Bennie ein, »das ist so mit Kindern und Eltern. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass ihr noch miteinander schlaft.«
Harald traten beinahe die Augen aus den Höhlen.
»Sei nicht frech!«, sagte er hilflos, sein Sohn grinste ihn allerdings nur fröhlich an.
»Er hat recht«, kam Lore dem Junior zu Hilfe. »Und das ist wirklich etwas, womit du dich nicht beschäftigen solltest. Es geht dich nichts an!«
»Was heißt, es geht mich nichts an?«, regte sich Harald gleich wieder auf. »Sie ist meine Mutter und da kommt irgend so ein daher gelaufener alter Knacker, der seine Hose nach dem Tod seiner Frau nicht einmal ein halbes Jahr lang geschlossen halten kann und …«
»Harald!« Jetzt wurde Lore ungehalten.
»Du sprichst über Mama, als wäre sie ein hilfloser Teenager. Außerdem kennst du den Mann ja gar nicht. Ich glaube, deine Mutter ist sehr wohl in der Lage, sich einen Mann auszusuchen, der zu ihr passt.«
»Viktor?«, ließ sich da Bennie vernehmen. »Der ist ein absolut cooler Typ!«
Überrascht drehten Harald und Lore ihm ihre Köpfe zu.
»Du kennst ihn?«, fragten sie wie aus einem Mund.
»Natürlich kenne ich ihn. Wir spielen hin und wieder Schach miteinander. Außerdem hat er eine tolle Klassiksammlung mit vielen Uralt-Aufnahmen. Hochinteressant!«
»Klassik? Du hörst Klassik?« Harald war einen Augenblick abgelenkt.
»Fanny auch. Der Mann kann das gut erklären und wie gesagt, tolle Aufnahmen. Er hört dafür mit uns Blues. Mit Kopfhörer! Und seit ein paar Tagen versuche ich, ihm Boogietanzen beizubringen. Das wird aber wohl nicht mehr so wirklich was.« Er zuckte bedauernd die Achseln.
»Ist denn das zu fassen? Meine ganze Familie verschwört sich hinter meinem Rücken. Nicht nur, dass Mutter ihren Liebhaber verheimlicht, lässt du uns ebenfalls blöd sterben! Wieso hast du nichts gesagt?«, fuhr ihn sein Vater an.
»Pfhh«, blies Bennie durch die Lippen. »Ich erzähl ja nie, wen ich bei Fanny treffe oder was wir machen. Ich wäre nicht auf die Idee gekommen, dass das so interessant für euch ist. Oder gar ein Problem.«
»Erzähl doch!« Lore zappelte neugierig auf ihrem Sitz herum. »Wie ist er denn so?«
»Jou, so ein kleiner Glatziger halt. Sieht ein bisschen schrullig aus. Trägt eine Hausjacke, wie ein alter Adeliger«, feixte er. »Fliegen statt Krawatten. Und immer so mit Handkuss und Sessel zurechtrücken. Aber sonst, wie gesagt, cooler Typ. Weiß viel, man kann super reden mit ihm. Von gutem Essen versteht er auch was.« Er wackelte beifällig mit dem Kopf.
»Na, scheint ja bestens zu uns zu passen, da können wir ihn doch wirklich einladen!«, rief Lore.
Harald schüttelte nur den Kopf.
»Der hat meine Familie bereits bestens im Griff«, murmelte er zynisch vor sich hin. »Zu gut!«, wurde er dann lauter. »Womöglich ist er auf ihr Geld aus.«
»Was ist jetzt wieder? Seit wann bist du auf Mamas Geld happig? Opa hat euch wohl beide gut versorgt. Was sie mit ihrem Geld macht, geht dich ebenfalls nichts an. Abgesehen davon, dass du ihr Berater bist und sowieso alles im Blickfeld hast.«
»Mir ist Mamas Geld egal! Aber ihm vielleicht nicht. Vielleicht hat er es deshalb so eilig.«
»Jetzt wird es mir bald zu bunt. Kannst du deiner Mutter nicht zugestehen, dass sie einfach liebenswert ist? Und attraktiv! Das ist nahezu diskriminierend. Abgesehen davon, dass du ihr unterstellst, dass sie im Kopf auch nicht mehr ganz richtig ist.«
»So hab ich das doch nicht gemeint«, entrüstete sich Harald. »Aber …«
»Nichts aber«, unterbrach ihn seine Frau. »Ich will davon jetzt nichts mehr hören. Du benimmst dich wie ein pubertierender Jugendlicher, nicht deine Mutter.«
Harald presste die Lippen zusammen, er sah aus, als würde er am liebsten mit dem Fuß aufstampfen und Lore musste lachen. Sie drückte sich kurz an ihn.
»Geh, jetzt mach kein Drama daraus. Was ist? Sie soll ihn das nächste Mal mitbringen und dann entscheiden wir wegen Heilig Abend.«
»Aber Weihnachten«, flüsterte er, noch immer erschüttert.

 

 

Doch einmal eingeschlagen, geht Franziska ihren Weg bis zur bitteren Neige und erfährt auf diese Weise, wie die Liebe über den Tod hinaus wächst.

 

 

Evelyne Weissenbach über „Das Mutterweib“:
 
Wie in allen meinen Romanen ist es auch hier so, dass ich meine Protagonisten und Handlungen aus dem täglichen Leben ableite.
Ich brauche keine abgehobenen Typen und keine konstruierten Storys. Mich nervt das immer in anderen Büchern. Der Alltag bietet Spannung genug, wenn man genau hinschaut.
Auch mag ich es, wenn sich meine Leser mit den guten Leutchen in meinen Büchern identifizieren können und am schönsten ist es, wenn sie eventuell sogar durch meine Auflösungen von Situationen ein bissl Selbsthilfe erfahren können. Auf unterhaltsame Weise.
Die Probleme meiner Helden sind immer alterslos.
Die fünfzigjährige Lena hat sicher die gleichen Probleme wie eine durchschnittliche 30jährige, oft sogar schon jüngere Frau.
Und ihr Lover ist ebenfalls mit bekanntem Muster unterwegs.
Auch die Probleme meines Mutterweibs und ihres Ehemanns sind nicht an ihr Alter gebunden.
Weiters wird immer auf die früheren Ereignisse eingegangen, die dem interessierten Leser darüber Aufschluss geben können, warum sich die Leute in den beschriebenen Situationen eigentlich so verhalten, wie sie es tun.
 
Und hier wollte ich diesen Ansatz bis ins Extrem verfolgen.
Meine beinahe 80jährige Fanny hat wieder so ziemlich die gleichen Probleme, wie Lena, Emmy oder so manche noch viel jüngere Leserin.

Sie kämpft mit einem manipulierten Selbstbild, und daraus resultierender Unsicherheit, mit Konkurrentinnen, Neid und Eifersucht, mit Unverständnis ihrer Umwelt, wenn sie sich nicht so verhält, wie es die anderen erwarten.
Aber sie erfährt ebenfalls wie wichtig es ist, sich selbst zu finden, zu lieben und dass es dafür nie zu spät ist.
 
Warum ich aber gerade dieses Buch geschrieben habe, hat einen ganz besonderen Grund.
Wahrscheinlich weil ich selber schon ziemlich nah an der Schwelle zum Alter stehe, sie für manche vielleicht sogar schon überschritten habe, nervt mich das Klischee, das für alte Menschen angelegt wird, enorm.
Wenn sie aus der Zone der „grauen Panther“ herausfallen, also der Konsumgesellschaft nicht mehr dienlich sind, außer mit Gehbehelfen oder Medikamenten, spricht man ihnen meistens jedwedes Lebensgefühl ab. Sie werden zu zweidimensionalen Wesen abgestempelt, die Volksmusik hören und auf die Besuche ihrer Enkelkinder warten.
Und natürlich die Liebe und noch stärker die Erotik, hat in ihrem Leben keinen Platz mehr zu haben.

Aber so ist das nicht!
Die Liebe ist bis zu unserem letzten Atemzug Thema, die Erotik verlässt nur jene, die sie verkümmern lassen und die Aussage, die ich transportieren möchte ist:

Die Lebenseinstellung prägt unser Alter, nicht das Alter unsere Lebenseinstellung.