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Auszug aus Kapitel 1:

Sie hörte sie, lange, bevor sie sie sah.
Emmy stand am Eingang zur Akropolis. Sie hatte die hohen Stufen erklommen und nun stand sie in einer leichten kühlenden Brise und gab sich dem erhebenden Anblick hin. Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn, dann reckte sie sich hoch auf. Sie spürte, wie sich das Mystische des Ortes auf sie übertrug. Ihr Körper fühlte sich an wie eine gespannte Sehne. Schlank und straff. In der Zeitlosigkeit des Platzes auf dem sie stand, fühlte sie sich jung und frei. Sie streckte sich dem Ort und seiner Ewigkeit entgegen, da hörte sie es.
Ein lautes Schnauben, Seufzen, Stöhnen. Etwas oder jemand keuchte die letzten Stufen hinauf. Welch ein Geräusch! Auch Emmy hatte sich abgemüht, um die weißen Marmorstufen zu bezwingen. Auch sie hatte mehrmals stehen bleiben müssen, um wieder zu Atem zu kommen, aber ein derartiges Keuchen hatte sie noch niemals vernommen. Es dröhnte förmlich in ihren Ohren.
Sie drehte sich unwillig um. Ihre ganze meditative Stimmung war verflogen. Dieses Rasseln belästigte sie bis ins Innerste.
Ein roter Kopf tauchte am Rande der letzten kleinen Plattform auf, bevor es an die letzten Stufen ging. Emmys Augen wurden immer größer.
Es war ihr eigenes Gesicht, in das sie blickte.
Aber wie sah sie nur aus? Ihre großen dunkelblauen Augen versanken im tiefen Fett der Wangen und waren nur Schlitze. Ihr sorgfältig blondiertes Haar hing in dünnen fahlen Zöpfen an beiden Seiten ihres breiten Gesichtes herunter, unter dem sich ein Doppelkinn in ein weiteres senkte, unter welchem sich eine riesige Speckfalte aus einem tief ausgeschnittenen ärmellosen Shirt wölbte.
Unter lautem Röcheln wurde ein gigantischer Körper die letzten Stufen hinaufgeschleppt. Die kleinen Brüste versanken in Unmengen von Speckrollen, die das knappe T-Shirt nur unzulänglich bedeckte und aus welchem Arme quollen, die aussahen, als wären sie an beiden Enden abgebundene Würste.
Die Oberschenkel waren so fett, dass sie über die Knie hingen, was die Dame aber nicht daran hinderte, eine kurze giftgrüne Hose zu tragen, auf der weiße Frösche herumhüpften.
Irgendwo hatte Emmy diese Hose schon einmal gesehen, aber es fiel ihr nicht ein, wo das gewesen war. Sie war viel zu schockiert von dem Anblick des Kolosses, der sich auf sie zu wälzte. In letzter Sekunde konnte sie noch zur Seite springen, sonst wäre sie einfach niedergewalzt worden.
Fassungslos blickte Emmy hinter der Gestalt her. Dann atmete sie tief ein. Erleichtert spürte sie ihren schlanken straffen Körper, der in einer hautengen gut geschnittenen Jeans steckte und auf ihrer BH-losen Brust das Schmeicheln des lässigen schneeweißen T-Shirts, das so gut mit ihrer gebräunten Haut kontrastierte. Sie fiel auf die Knie und dankte Gott für ihre makellose Haut, ihre runden blauen Augen und für die hübschen blonden Strähnchen in ihrem halblangen, seidigen Haar.
Das Monster drehte sich noch einmal um und machte eine drohende Gebärde zu Emmy hin. Emmy sprang so rasch in die Höhe, dass sie das Gleichgewicht verlor und rücklings die erhabenen, schneeweißen Marmorstufen hinunterstürzte.
»Puppi, Puppi«, drang Wolfgangs besorgte Stimme in ihr Bewusstsein.
»Emmy, hörst du mich? Puppi!«
Emmy lag in der Kabine auf ihrem Bett.
Was war los? Verstört sah sie in Wolfgangs aufgerissene Augen.
Was war denn nur passiert? Oh Gott, die Dicke!
Wie war sie nur hier her gekommen?
»Gott sei Dank«, rief Wolfgang. »Jetzt habe ich mir schon Sorgen gemacht. Du musst aufstehen, es ist Diner-Zeit.«
»Diner? Aber ich … ich war doch auf der Akropolis?«
»Ja natürlich! Wir waren beide auf der Akropolis. Aber nun ist Diner-Zeit.«
Ah, es war nur ein Traum gewesen.
Erleichtert sprang Emmy auf. Sie suchte ihr hübschestes Kleidchen, steckte sich eine Blüte ins Haar und nur etwas später stolzierte sie fröhlich am Arm ihres Göttergatten an ihren Abendbrot-Tisch.
Wolfgang rückte ihr gerade den Stuhl zurecht, da hörte sie es wieder.
Ein Keuchen ließ die Luft erbeben.
Emmy stockte der Atem. Nur zaghaft hob sie den Blick. An der Tür zum Restaurant stand die Dicke in ihrer Fröschchen-Hose und ließ den Blick über die Anwesenden schweifen. Erkennen blitzte in ihren Augenschlitzen auf, dann setzte sie sich Richtung Emmy in Bewegung. Unter ihren Schritten erbebte der Boden des Schiffes. Die Augen aller Anwesenden folgten ihr.
Die Gestalt zeigte mit vorwurfsvoller Miene auf Emmy und wedelte anschuldigend mit der Hand.
Dann zog sie sich zwei Sessel an den Tisch und verteilte ihre Masse darauf, indem sie sich Emmy genau gegenüber setzte.
Emmy saß wie zur Salzsäule erstarrt. Eine Hand hatte sie auf den Mund geschlagen, ihre Augen drohten aus den Höhlen zu kippen.
»Wolfgang«, flüsterte sie schwach. »Wolfgang!«
»Ja, Puppi?« wendete er sich sofort zu ihr.
»Da ist sie wieder.«
»Wer ist wieder hier?«
Sie stieß ihn mit dem Schuh unter dem Tisch an. Ihren Blick konnte sie nicht von ihrem Vis a vis wenden.
»Die Frau von der Akropolis.«
»Welche Frau von der Akropolis?«
Wieder stieß sie ihn unter dem Tisch an.
»Da! Die… die …«
Wolfgang sah sie besorgt an. Sie konnte seinen Blick nur spüren, denn sie selbst sah immer noch starr auf die Frau.
»Da! Gegenüber! Die … die … Dicke!«
In diesem Augenblick legte sich absolute Stille über das Restaurant. Das Wort knallte wie ein Kanonenschuss und hallte dann wie ein betrunkenes Echo von allen Wänden immer wieder und wieder zurück.
Die Frau, die gerade aus ihrem Wasserglas getrunken hatte, spitzte die Lippen und spie dann einen nie zu enden scheinenden Wasserstrahl über den Tisch. In kürzester Zeit war Emmy bis auf die Haut durchnässt. Mitten auf dem Tisch schwamm die rote Blume aus ihrem Haar in dem See, der sich rasch bildete.
Die Menschen sprangen von ihren Sitzen und stürzten alle mit drohend erhobenen Fäusten auf Emmy.
Sie schrie gellend.
Sie schrie so laut, dass sie davon erwachte und in die Höhe fuhr. Erleichtert atmete sie tief durch. Wolfgang lag im Nebenbett auf dem Rücken. Er grunzte beim Einatmen und beim Ausatmen gab er sonore Schnarcher von sich. Es war kurz vor sieben Uhr. Sie drückte auf den Wecker und stand rasch auf.

 

 

Dieser Traum ist der Beginn einer großen Veränderung in Emmy Rubingers Leben.

Emmy war bis dahin eine der Frauen, die mit ihrem Leben rundherum zufrieden sind:
Ein freundlicher Ehemann, eine wohlgeratene Tochter, keine finanziellen Probleme, alle sind gesund.
Als sie von ihrer Silberhochzeitsreise zurückkehrt, bekommt Emmys heile Welt Sprünge durch Panikattacken und schizophrene Begegnungen. Die monströse Gestalt mit der Fröschchen-Hose, verfolgt sie. Und später nicht mehr nur im Traum …
Ihr Haushalt wird zur Belastung, ihr Ehemann versteht sie nicht mehr und ihre Tochter lebt ihr eigenes Leben.
Emmy zieht sich immer weiter zurück, wagt sich fast nicht mehr aus dem Haus, wird immer kommunikationsloser. Ihre Tage bekommen einzig Qualität durch die Zuneigung eines jungen Mannes, der ihr Sohn sein könnte.

 

 

Auszug aus Kapitel 5:

Emmy stand auf und holte eine neue Flasche. Diese war wirklich schnell leer geworden. Doch nein, so schnell war das gar nicht. Die Zeit war wie im Flug vergangen. Es ging schon bald auf Mitternacht.
Sie hörte hinter sich die Lade klappern und da stand Mark bereits mit dem Korkenzieher neben ihr.
Lena fiel ihr ein. Von Verliebtheit keine Spur. Die Natürlichkeit des Abends würde sie wohl überraschen. Emmy hatte zwar nicht daran gedacht, als sie mit Mark in die Küche wechselte, aber er hatte nun eindeutig bestätigt, dass er an ihr als Frau nicht interessiert war. Sonst hätte er doch sicher ein kleines Zeichen gegeben.
Sie schmunzelte zu ihm hoch.
Mark hielt mitten in der Bewegung inne. Eine der Kerzen spiegelte sich in ihren Augen, ein türkiser Funke sprang.
Und da! Noch einer!
Er vergaß zu atmen und starrte fasziniert auf diesen Funkenflug, wie ein Kind auf die Wunderkerzen am Weihnachtsbaum. Emmy spürte, wie ihr Herz plötzlich im Hals klopfte, ihre Hand fuhr nach oben.
»Oh!« entfuhr es ihr. In seinem Blick hatte sie ein tanzendes Licht entdeckt, eines, das sie schon lange vergessen hatte, aber sofort wieder erkannte. Sie schloss die Augen.
Seine Lippen waren weich, ganz leicht legte er sie auf Emmys. So standen sie, einfach nur Mund an Mund. Es war Emmy, die nach einem Moment der Ewigkeit ihre Zunge ganz langsam über seine Lippen gleiten ließ. Er schmeckte köstlich nach Rotwein und Nüssen. Mit seinen Zähnen holte er ihre Zunge sanft in seinen Mund. Dort umwarb er sie schmeichelnd mit seiner.
Die Zärtlichkeit des Augenblicks spann Emmy in einen Kokon der Sicherheit, in dem es nur Mark und sie gab. Sie ließ sich gegen ihn sinken. Aber er konnte sie nicht umarmen, weil er vor seinem Körper in der einen Hand die Weinflasche hielt und in der anderen den Korkenzieher, der erst die Hälfte des Korkens heraus gedreht hatte.
Sie spürte, wie er unruhig wurde und fürchtete sich vor dem nächsten Moment, wo er ihre Lippen verlassen würde. Als es geschah, blieb sie einfach mit geschlossenen Augen stehen und versuchte, dem Augenblick noch in sich nachzuspüren. Der Kokon war zerrissen, die Einsamkeit fühlte sich kalt an. Eiskalt. Sie begann zu zittern.
Mark hatte die Flasche abgestellt und sich sofort wieder zu Emmy umgedreht. Er blieb wie angewurzelt vor ihr stehen und wusste, er würde diesen Anblick nie vergessen können. Dieses Gesicht mit den geschlossenen Augen in seiner Versunkenheit, und den Augenblick des Zerfalls in tausende Splitter Schmerz.

 

 

Das Aufleben erotischer Ansprüche, von denen sie glaubte, diese bereits hinter sich gelassen zu haben, stürzt Emmy in zusätzliche Konfusion.
Sie wählt den Weg in eine Therapie.
Und begegnet einer wichtigen neuen Freundin: Lena Rotwald.

 

 

Auszug aus Kapitel 4:

Emmy stand an der Straßenecke und hielt sich an einem Verkehrszeichen fest. Sie hatte Einkäufe gemacht und ihre letzte Station sollte der Geldautomat sein, der im Foyer der Bank auf der anderen Straßenseite war.
In der letzten Stunde hatte sie eine innere Unrast verspürt und die Anspannung war immer größer geworden. Deshalb hatte sie auch schon ein paar Posten auf ihrer Liste gestrichen, sie wollte so rasch als möglich nach Hause.
Doch als sie die Straße überqueren wollte, war die Welt auf einmal nicht mehr wie sie vorher war.
Die Fahrbahn, die sich, wie sie wusste, in der Mitte etwas nach oben wölbte, zeigte sich plötzlich als langgezogene Mulde. Der Schreck ließ sie taumeln. Sie fing sich gerade noch an der Einbahntafel und hier stand sie nun, in einer Hand die Tragtaschen und mit der anderen klammerte sie sich an die Stange des Verkehrsschildes.
Mehrmals hatte sie versucht, dies als Unsinn abzutun. Hatte konzentriert geatmet und einen Punkt auf der Mauer des gegenüberliegenden Hauses fixiert, der im Augenblick ihre einzige Sicherheit bildete, weil er sich nicht bewegte. Wiederholt hob sie ein Bein, um endlich den ersten Schritt zu machen, aber jedes Mal wenn sie es aufstellen wollte, verging unbeschreiblich lange Zeit. Sie hatte das Gefühl, ins Uferlose zu steigen und niemals am Boden anzukommen. Sie wagte es nicht, loszugehen.
»Nein«, sagte sie immer wieder. »Nein! Es ist alles in Ordnung! Alles ist in Ordnung!«
Sie wippte ein paar Mal mit dem Oberkörper, dann hob sie erneut einen Fuß und stellte ihn vorsichtig vor sich. Wieder versank er im Asphalt, als wäre es Sumpf.
»Nein«, sagte sie wieder. »Nein! Der Boden ist ganz fest. Ganz fest.«
Konzentriert atmete sie weiter und sah unruhig nach rechts und links. Es kam kein Auto.
»Jetzt!« befahl sie. »Jetzt!«
Sie stieß sich von der Stange ab und ging im Stechschritt drauflos. Links – rechts, links – rechts. Ihre Augen klebten weiter an dem Fixpunkt der Hausmauer, die aber, wie ihr schien, überhaupt nicht näher kam. Sie hatte das Gefühl eine große Kurve zu gehen, dann war sie endlich drüben angelangt. Ihr Herz raste und sie musste wieder stehen bleiben und atmen. Der Schweiß rann ihr über das Gesicht und unter der linken Brust verspürte sie unangenehme Stiche. Die Schulter und der Oberarm schmerzten ebenfalls.
»Es ist nur die Verspannung. Ich habe mich verkrampft, sicher nur verkrampft.« Sie holte ein Taschentuch aus ihrer Manteltasche und wischte sich das Gesicht ab. »Das EKG war ganz in Ordnung. Es ist kein Herzanfall. Nein, es ist kein Herzanfall!«
Sie suchte sich einen neuen Fixpunkt und wählte das Tor der Bank, das ruhig und hell erleuchtet ein paar Schritte vor ihr lag.
»Alles ist in Ordnung«, sagte sie sich vor und ging weiter, obwohl auch der Gehsteig nicht flach verlief, sondern sich ebenfalls in der Mitte senkte.
»Es ist nicht wahr«, murmelte sie. »Nein, es ist nicht wahr. Der Gehsteig ist glatt wie ein Brett.«
Sie konzentrierte sich auf ihre Schritte. Links – rechts, links – rechts. Sie spürte den Boden unter den Füßen nicht, aber dann stand sie doch vor der großen Glastüre der Bank. Die automatische Tür öffnete sich und sie sah, dass sich einige Leute im Selbstbedienungsfoyer aufhielten. Am Geldautomat waren zwei Frauen angestellt. Sie atmete wieder heftig und hatte das Gefühl, sie müsste nun jeden Augenblick umfallen. Nein, sie konnte sich hier jetzt nicht anstellen. Unmöglich.
Weiterhin vollkommen auf ihre Schritte konzentriert, obwohl sie nicht spüren konnte, wie sie den Boden berührten, verließ sie das Foyer wieder.
Als sie auf die Straße trat, fiel ihr Blick auf das Geschäftsschild der kleinen Papierhandlung von Lena Rotwald. Wie ein Automat ging sie darauf zu, links – rechts, links – rechts, und schaute unsicher durch die Glasscheibe, ob Lena Kunden hatte. Niemand war zu sehen. Sie holte tief Luft, drückte die Türe auf und ging mechanisch bis zum Verkaufspult. Dort blieb sie stehen und sah mit leeren Augen auf einen Punkt an der Wand, wie blinde Menschen es oft taten.
»Oh, guten Tag, Frau Rubinger. Frohes Neues Jahr!«
Lena sortierte die Weihnachtskarten aus einem Verkaufsständer, der in einer Ecke hinter Emmy stand, in einen großen Karton, um sie bis zum nächsten Jahr ins Magazin stellen zu können.
Emmy gab keine Antwort, doch Lena war nun schon bei ihr angelangt und sah, dass sie mehrmals den Mund öffnete, aber anscheinend keinen Ton herausbrachte.
»Theres«, rief sie ins Büro. »Bring einen Sessel, rasch!« Dann nahm sie die Kundin um die Schulter.
»Oder können Sie mit mir nach hinten kommen?« Sie überlegte blitzschnell, dass dies sicher die bessere Lösung wäre.
Emmy nickte und hob einen Fuß ein paar Zentimeter vom Boden auf. Sie schwankte, stellte ihn wieder zurück und sah Lena verzweifelt an.
Theres war schon mit dem Stuhl da und Emmy setzte sich vorsichtig, ihre Finger dabei fest in den Unterarm Lenas krallend. Die Beine stellte sie ordentlich nebeneinander und atmete einige Male heftig. Ihr Oberkörper wippte vor und zurück und sie schüttelte den Kopf.
»Es kam so plötzlich«, sagte sie atemlos.
Sie machte Anstalten, wieder aufzustehen.
»Bleiben Sie noch sitzen.« Lena drückte sie sanft wieder zurück.
»Ich kann nicht«, sagte Emmy fast tonlos. »Ich habe das Gefühl, als würde ich seitlich wegkippen.«
Theres hatte ein Glas Wasser gebracht.
Emmy nahm es und führte es mit vollkommen ruhiger Hand zum Mund.
»Ich muss auf die Toilette«, sagte sie. »Aber …« Ihr Kopf wackelte und ihr Gesicht bekam einen gehetzten Ausdruck.
»Kommen Sie nur, wir kriegen das schon hin.« Lena stützte sie beim Aufstehen und geleitete sie nach hinten.
»Unser WC ist so klein, da kann man nicht einmal umfallen drinnen«, versuchte sie einen müden Scherz.
»Wir lehnen die Türe an und ich bleibe hier stehen.« Sie nickte beruhigend. »Und denken Sie daran, ich kenne das …«
Emmy schämte sich in Grund und Boden, aber sie konnte sich jetzt nicht weiter damit beschäftigen. Jeder einzelne Ablaufpunkt der Handlung nötigte ihr vollste Konzentration ab.
Theres starrte Lena mit großen Augen an. Zu gut konnte sie sich noch an die Zeiten erinnern, wo es ihrer geliebten Chefin genau so ergangen war.
Sie hörten die Klospülung und Lena deutete Theres, dass sie nach draußen verschwinden sollte. Es genügte, dass es Frau Rubinger vor ihr peinlich war. Es mussten nicht zwei Personen sein, vor denen sie sich genierte.
»Entschuldigen Sie bitte. Ich … ich …«
»Denken Sie nicht darüber nach!« wehrte Lena ab.
»Soll ich Ihren Mann anrufen?« fragte sie dann.
»Der ist in Frankreich«, flüsterte Emmy. »Sie glauben nicht, dass es der Kreislauf sein könnte?«
Emmy sah Lena fast flehend an.
»Ich glaube es nicht, aber ich bin kein Doktor. Ich denke, ich sollte sie jetzt zu einem Arzt bringen. Das wäre auf jeden Fall angebracht. Man muss sich auch Sicherheit darüber verschaffen, dass es keine physischen Ursachen hat.«
»Ich habe erst ein Dauer-EKG und eine Vierundzwanzigstunden-Blutdruckmessung gehabt. Es war alles okay.«
Theres hatte inzwischen im Telefonbuch nachgesehen.
»Dr. Ofenstätter hat noch Ordination.«
»Ah gut! Dr. Ofenstätter ist gleich um die Ecke. Ich kenne ihn, er ist ein guter Kunde von mir und sehr nett. Kommen Sie, ich gehe mit Ihnen.«
»Das kann ich … nicht annehmen«, stotterte Emmy.
»Doch, doch, das können Sie«, lächelte Lena sanft, während sie bereits ihren Mantel anzog. Sie hängte sich Emmys Handtasche um und nahm sie beim Arm.

 

 

Mit Hilfe ihres Therapeuten und Lena gelangt Emmy an den Punkt, wo sie erkennt, dass ihre Zustände Symptome sind, die ihr etwas sagen möchten und sie es wagt, mit der bedrohlichen Erscheinung in Dialog zu treten. Es gelingt ihr, das Chaos in ihrem Inneren zu bewältigen und die Entscheidung für ihren weiteren Lebensweg eigenverantwortlich und selbstliebend zu treffen.
 
Zitat Klappentext:Ungelöste Mutterbindungen sind der rote Faden, der sich durch diesen Roman zieht.
Emmy begreift, dass die längst gelöst geglaubte Bindung zu ihrer Mutter noch immer besteht, ihr Sexualleben beeinflusst und ihr Dasein bestimmt.
Und sie muss lernen, mit der Rolle der Ersatzmutter im Leben des Mannes, den sie liebt, umzugehen.

 

 

Evelyne Weissenbach über „Das Mutterweib“:
 
Es ist diesmal kein humorvoller Roman geworden, das war bei diesem Thema nicht möglich.
Doch es war mir wichtig, diese Thematik in einer alltäglichen Situation darzustellen. Sie aus dem vermeintlichen Nichts auferstehen zu lassen und so zu beschreiben, dass eine spannende Handlung entsteht, in die sich absolut jeder plötzlich versetzt finden kann. Körperliche Beschwerden, Sinnkrisen, Liebesverirrungen, mit denen so viele Menschen zu kämpfen haben und keine Ahnung haben, woher sie kommen und wie sie damit umgehen können, in Therapiesitzungen und Gesprächen mit wichtigen Bezugspersonen aufzulösen.

Es ist keine autobiografische Geschichte, aber ich bin diesen Weg gegangen, ich wusste, was ich transportieren wollte:
Zusammenhänge zwischen körperlichen Beschwerden und unbewussten psychischen Strömungen aufzeigen und, wenn möglich, auch Schwellenängste vor Therapie nehmen.
Und vielleicht so mancher Frau die Hintergründe ihrer Sexualität erhellen und Denkanstöße für ihren eigenen Lebensweg mitgeben.
Denn wenn wir Frauen sein wollen, müssen wir unsere eigenen Kinder werden und unsere eigenen Mütter – und manchmal auch die unserer Männer …
Die legendäre heilige Hure ist nichts anderes als Das Mutterweib