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tod einer witwe

Allerheiligen auf dem Friedhof in Schilfern. Eine alte Frau hat einen Schlag auf den Kopf bekommen und ist daraufhin im Brunnen ertrunken. Die Ermittlungen unter den vornehmlich alten Leuten bringt Erstaunliches zutage. Die Geschichten, die sich Luise Pimpernell anhören muss, bringen das Image von netten Omas und Opas sehr ins Wanken. Der Blick in die gemeinsame Vergangenheit der Senioren trägt zusätzlich dazu bei, die Suche nach dem Täter zu erschweren, weil praktisch jeder der auftretenden Personen ein Motiv gehabt hätte.

Ein spannender Fall, aber auch Geschichtsunterricht aus erster Hand für Luise Pimpernell.

pimpernell

 

Prolog

Es war eine sogenannte schöne Leich.
Denn der in seinem sechsundachtzigsten Lebensjahr verstorbene Josef Krauthacker, Erbauer des Seehotels in Schilfern, war ein höchst angesehener Mann gewesen. Ehemals Bürgermeister des Zweitausend-Seelen-Dorfes, Obmann des Jagdvereins, Kommandant der Freiwilligen Feuerwehr, sogar Vorstandsmitglied im Winzerverein, obwohl er gar kein Weinbauer gewesen war.
Es waren so viele Trauergäste gekommen, dass weit nicht alle in der kleinen Aufbahrungskapelle Platz gefunden hatten und die Ansprachen des Pfarrers, wie auch der anderen Redner per Lautsprecher nach draußen übertragen werden mussten.
Das monotone hohe Gebimmel des Totenglöckchens setzte ein und legte sich über den Ortsteil rund um den Friedhof von Schilfern. An der Tür entstand Bewegung und die Besucher auf dem Platz vor dem Gebäude bildeten eine Gasse, durch die der Trauerzug seinen Anfang nehmen konnte.
Die Windlichterträger, die vorangingen, waren aus den Reihen der Jäger rekrutiert, den Sarg trugen Mitglieder der Freiwilligen Feuerwehr.
Hinter dem Pfarrer, mit zwei seiner Ministranten, trippelte mit unsicheren Schritten die Witwe Dorothea Krauthacker, eine kleine, verschrumpelt wirkende Frau, die beinahe zwischen ihren beiden hochgewachsenen Söhnen verschwand. Der schwarze Mantel, den sie trug, war offensichtlich viel zu groß für sie und der Hut auf ihrem Kopf schien nur von den Ohren aufgehalten zu sein, ihr noch tiefer ins Gesicht zu rutschen, als er es ohnehin tat.
Unmittelbar hinter den Schwiegertöchtern und Enkeln führte Bürgermeister Rudi Weisz, mit Gattin, den Zug der so zahlreich erschienen Einwohner seiner Gemeinde an.
Die Dorfmusikkapelle verging sich am Trauermarsch von Chopin, aber da die Teilnehmer der Beerdigungen in Schilfern ihn nur so kannten, war dies für niemanden von wesentlicher Bedeutung.
Danach dauerte es einige Zeit, bis der Friedhof sich leerte und Ruhe auf dem Gottesacker einkehrte. Zurück blieben lediglich vier Frauen jenseits der achtzig, die bei der außergewöhnlich milden Tempe¬ratur dieses Oktobertages auf der Bank neben dem Tor saßen. In ihren schwarzen Mänteln und dunklen Kopftüchern vermittelten sie beinahe den Eindruck, als hätten sich ein paar Krähen dort aufgereiht.
»Habt’s die Bürgermeisterin gesehen? Im Pelzmantel! Um die Jahreszeit. Na, die wird sich abgeschwitzt haben.« Albertine Echs schüttelte den Kopf und die anderen kicherten zustimmend.
»Und die Thea?«, fragte Hilda Ringleitner. »Die hätt genug Geld, die hätt sich ruhig einen passenden Mantel kaufen können. Überhaupt jetzt, wo ihr der Josef nicht mehr jeden Groschen vorrechnen kann. Und der Hut! Gibt’s das überhaupt, dass einem ein Hut zu groß wird? Oder hat sie sich den von irgendjemandem ausgeborgt?«
»Ich glaub, der gehört der Ripp Frieda. Den hab ich schon gesehen bei Begräbnissen. Den borgt die anscheinend öfter her«, vermutete Albertine.
»Der Ripp Peter war auch wieder angesoffen. Jedes Mal das Gleiche mit ihm«, trug Käthe Radacs das ihrige zur Unterhaltung bei.
»Dabei sind die noch zum Leichenschmaus eingeladen. Genauso wie die Irma. Nur unsereins natürlich nicht«, gab Albertine mit pikiertem Gesicht Auskunft.
»Die Männer waren halt miteinander im Jagdverein. Wahrscheinlich deshalb. Weil so richtig gut befreundet sind die Thea und die Irma nicht.«
»Wer kann schon mit der Thea gut befreundet sein.« Albertine offensichtlich nicht.
»Wo haben sie denn überhaupt den Leichenschmaus? Das Hotel wird ja gerade umgebaut. Beim Jagawirt?«, fragte Hilda.
»Nein«, antwortete Käthe. »Soviel ich weiß, sind’s beim Pimpernell.«
»Beim Heurigen?«, rief Albertine erschüttert.
»Die Elfi wird das sicher ordentlich machen. Ihr Schweinsbraten ist sowieso besser als der von der Jagawirtin«, brach Aloisia Murgitsch, die Vierte im Bunde, die bisher kein Wort verloren hatte, eine Lanze für die Heurigenchefin.
»Im feinen Seerestaurant hätten sich die meisten sowieso nicht wohlgefühlt«, meinte Albertine Echs. »Sag einmal«, wandte sie sich daraufhin an Aloisia. »Macht da keiner was auf dem Grab vom Vinzenz? Das schaut ja sehr nackert aus. Nächste Woche ist Allerheiligen!«
»Was soll ich tun?«, wehrte sich die Angesprochene. »Seine Leut haben das so angeschafft. Nur Rasen und eine Marmoreinfassung. Ich stell eh immer ein paar Blumen hin. Aber sonst kann ich mich da nicht dreinmischen.«
»Na, deine Schwester liegt ja auch da drinnen. Da müssen sie dich doch mitreden lassen«, fand die Hilda.
»Mich muss keiner mitreden lassen. Das ist die Angelegenheit von der Familie vom Schwager.«
»Beim Erben haben sie alle die Hand aufgehalten, ums Grab schert sich keiner«, gab Albertine ihren Senf dazu.
Aloisia stand auf und fuchtelte mit ihrer Gartenschaufel vor den Nasen der anderen herum. »Ach, lasst’s doch mich in Ruhe damit. Ich ärgere mich eh selber genug darüber. Ich kann auf jeden Fall nichts machen. Ich bin für das Grab meiner Eltern zuständig, aber nicht für das von den Emsers.«
»Da bist heuer zeitig dran mit den Erika. Die machen wir eigentlich nur für den Winter.« Hilda zog die Augenbrauen in die Höhe.
»Weils so schön waren beim Hofer, wie mich die Maria dorthin mitgenommen hat. Was weiß ich, wann ich wieder hinkomm. Ich mach dann schon noch was anderes dazu für Allerheiligen.«
Aloisia Murgitsch drehte sich um und verließ mit kleinen, schlurfenden Schritten den Friedhof, wohlwissend, dass die Frauen noch einige Zeit über sie, das Grab ihrer Eltern und das der Familie Emser herziehen würden.

 

1.

Frau Dr. Luise Pimpernell saß im Nachthemd auf einer der beiden Truhenbänke, die um ihren Küchentisch gruppiert waren, die Füße auf einem Polster mit gehäkeltem Überzug gelagert, der ein niedriges Holzstockerl zierte. Sie blätterte in einer Zeitschrift für Babystricksachen, um ein Teil für ihre Großnichte auszusuchen, mit dessen Anfertigung sie sich an diesem Feiertag auf höchst angenehme Weise die Zeit vertreiben würde, und schlürfte genüsslich ihren Morgen¬kaffee. In ihrer Küche war es mollig warm, sie hatte den eisernen Herd, der, wie nahezu die gesamte Einrichtung ihres Hauses, noch aus der Zeit stammte, als ihre Großmutter hier lebte, zum ersten Mal für heuer eingeheizt. Am Morgen war es bereits ungemütlich kühl, auch wenn sich der Oktober beinahe frühlingshaft gegeben hatte. Aus dem Wohnzimmer swingte Benny Goodman herüber und die Zehen an ihren noch nicht in Stützstrümpfe gezwängten Beinen wippten schmissig mit.
Sie wollte sich eben ein bisschen Hetscherllekvár auf ein Stück Germstriezel träufeln, als der Anruf kam.
»Eine Tote auf dem Friedhof, bei Ihnen in Schilfern«, wurde sie vom Feiertags-Journaldienst ihrer Dienststelle informiert.
»Nur eine?«, fragte die Frau Oberst, ihres Zeichens Leiterin des Dezernats für Verbrechen an Leib und Leben im LKA Eisenstadt, ironisch.
»Ja, soviel ich weiß.« Der Kollege war entweder noch nicht ganz wach oder resistent gegen den sarkastischen Humor der Dezernatsleiterin.
Seufzend nahm sie Abschied von ihrem Feiertagsmorgenidyll. Immerhin hatte sie nicht weit zum Einsatzort. Und vielleicht war es eh kein Verbrechen und sie war bald wieder zu Hause.
Auf harmonische Zusammenstellung ihrer Kleidung legte Luise an sich schon keinen gesteigerten Wert. Nun, aus ihrem kuscheligen Flanellnachthemd gerissen, kümmerte sie sich in der Schnelligkeit noch weniger darum.
Sie schlüpfte in einen knöchellangen Rock mit Gummi¬bund aus einem dunkelbraunen tweedartigen Material mit orangen Karos, eine ihrer geliebten Rüschenblusen aus den Achtzigern, diesmal in strahlendem Himmelblau, und eine lange selbstgestrickte Weste, die einen hohen Anteil an Violett hatte, weil das Luises Lieblingsfarbe war. Wie meistens knöpfte sie diese verkehrt zu, doch als sie es bemerkte, ließ sie es in der Unaufgeregtheit ihrem Erscheinungsbild gegenüber einfach dabei bewenden.
Über diese Pracht warf sie einen Poncho, der ebenfalls selbstverfertigt war und dessen dicke Wolle sie zu einem Muster verarbeitet hatte, das an mexikanische Pferdedecken erinnerte.
Dazu stülpte sie sich den unvermeidlichen Jägerhut aus abgewetztem Filz auf den Kopf, ebenfalls ein besonderes Lieblingsstück. Ohne ihn ging Luise so gut wie nie aus dem Haus und sie nahm ihn auch nirgends ab. Seit Jahren, ja Jahrzehnten, hatte sie niemand mehr ohne Kopfbedeckung gesehen, nicht einmal ihre Familie.
Den Riemen der alten Schultasche aus schwartigem Schweinsleder, die ihr als Arbeitstasche diente, zog sie schräg über die Brust, den klobigen Ranzen schob sie auf den Rücken.
Die Schilferner Friedhofgasse, in der Luise Pimpernell wohnte, mündete – wohl nicht überraschend – an einer Seite in die Straße vor dem Friedhof. Deshalb holte sie nur ihr altes Waffenrad aus dem Stadel und fuhr damit die paar Meter zum Einsatzort.
Die Menschentraube, die sich vor dem Friedhof gebildet hatte, bestand vornehmlich aus Frauen, die am Morgen des Allerheiligentages noch letzte Hand an die Gräber ihrer Vorfahren und Lieben legen wollten. Der Unmut darüber, sich womöglich einen schlechten Ruf einzuhandeln, weil sie die letzten vorwitzigen Grashalme nicht auszupfen und das Brennen der Grablichter nicht kontrollieren konnten, überwog beinahe die Neugierde.
Als Luise mit wehendem Umhang dort aufkreuzte, bot sie einen Anblick, der das Gemurre für einen Augenblick zum Erliegen brachte, um jedoch sofort in ein Aufbranden unwirscher Fragen überzugehen, kaum dass sie vom Rad stieg.
Sie hob nur die Hand und sah zu, dass sie rasch hinter das Friedhofstor kam, das ein junger Uniformierter sofort wieder hinter ihr schloss und bewachte. Auf der Bank neben dem Tor saß Aloisia Murgitsch mit im Schoß gefalteten Händen, neben sich eine dieser dunkelbraunen quaderförmigen Einkaufstaschen von früher, die aussahen, als wären sie aus Pappkarton.
Luise blieb kurz bei ihr stehen, um sie zu begrüßen und die alte Frau sagte vorwurfsvoll: »Was ist denn da los bei uns? Wieso sterben die Leute denn nicht mehr auf normale Weise, im Bett oder so?« »Ich muss erst schauen, was passiert ist, Frau Murgitsch. Ich komme dann wieder zu Ihnen.«
Luise war klar, dass die Frau etwas mit der Toten zu tun haben musste, fürs Erste war sie jedoch froh, dass es nicht Aloisia getroffen hatte, zu der sie ein loses, aber recht gutes Verhältnis hatte.
Über die Gräber hinweg sah sie auf dem kleinen Friedhof gleich, wo sich die Kollegen befanden und mit ihrem ausholenden Schritt, der hinter ihrem Rücken oft den Zusatz »Dragoner« bekam, machte sie sich auf den Weg zum Ort des Geschehens.
»Morgen, Luise!«, trompetete ihr Abteilungsinspektor Roman Grümpl mit Bassstimme entgegen und verzog bedauernd das Gesicht. Was sich keineswegs auf die Kollegin bezog, sondern darauf, dass sie, wie er und seine Frau, bei ihrem gemütlichen Morgenritual gestört worden waren.
Das Erscheinungsbild des Kriminalbeamten am Polizeipostenkommando Neusiedl am See stand nicht nur im krassen Gegensatz zu seiner Stimme, sondern auch zu der Ermittlerin aus Eisenstadt. Ein kleiner, schmaler Mann, der neben ihrer großen, üppigen Statur beinahe lediglich halb so groß und breit wie sie wirkte, in dezentem Grau von den Haaren bis zu den Socken. Immer mit Anzug, Krawatte und blütenweißem Hemd.
Ihr Verhältnis zueinander war ausgezeichnet. Sie teilten die gleiche Arbeitsauffassung und auch den Humor. Beiden tat es immer leid, wenn Luise, nach Einsätzen im Bezirk, in ihre Dienststelle nach Eisenstadt zurückkehrte und er an seine Kleinkriminalfälle. Der private Kontakt verflachte dann wieder, auch wenn sie es sich jedes Mal anders vornahmen.

 

Weitere Informationen unter Luise Pimpernell ermittelt …